Online Artikel Süddeutsche, 04.03.2024: Tischler statt Schreibtisch

von Manuela Bubenzer

Fachkräftemangel im Handwerk

Immer mehr Schülerinnen und Schüler machen Abitur und wollen studieren. Aber wer baut dann Häuser, wer repariert Fahrräder und wer schneidet Haare? Gesellschaft und Bildungspolitik müssen umdenken.

In den Hallen der Münchner Messestadt konnte man zuletzt das Gefühl bekommen: Im Handwerk läuft alles wunderbar. Bis zum vergangenen Sonntag fand dort die internationale Handwerksmesse statt, 812 Aussteller auf 63 000 Quadratmetern feierten sich selbst. Wer dagegen in letzter Zeit mal versucht hat, eine Waschmaschine oder Klospülung reparieren zu lassen, hat möglicherweise einen anderen Eindruck vom Zustand der Branche.

Dem Handwerk mangelt es an Fachkräften und Nachwuchs. 237 000 Stellen waren im Jahr 2022 offen, so viele wie noch nie. Jeder sechste Ausbildungsplatz war nicht besetzt. Es fehlen Elektriker und Kfz-Mechanikerinnen, Klempnerinnen und Konditoren.

Nun kann man mit den Schultern zucken und das für eine natürliche Entwicklung halten in Zeiten, in denen immer mehr junge Leute Abitur machen und studieren. Und ja, es ist wichtig (und nebenbei bemerkt in Deutschland noch längst nicht erreicht), dass das Bildungssystem durchlässig und eine akademische Karriere unabhängig vom Elternhaus möglich ist. Trotzdem wird es für die Gesellschaft zum Problem, wenn irgendwann nur noch studierte Leute vor Computern sitzen. Wer baut dann Häuser? Wer repariert Autos, Züge, Fahrräder? Wer schneidet Haare? Noch können Roboter oder künstliche Intelligenz diese Arbeiten nicht übernehmen.

Nun ist es nicht so, dass sich niemand mehr für handwerkliche Berufe interessiert. In einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln gab knapp ein Drittel der befragten Jugendlichen an, dass sie sich eine Karriere im Handwerk vorstellen könnten. Trotzdem arbeitete nur jeder Zehnte von ihnen in diesem Bereich. Es gibt also durchaus ein Potenzial, aber es wird verschenkt.

Am Stand der bayerischen Metzger auf der Handwerksmesse konnte man "Game of Thrones" mit Figuren wie dem "Keulen-Krieger" oder der "Filet-Fee" nachspielen. Hört man sich unter Auszubildenden um, ist das nicht unbedingt das, was es bräuchte, um das Handwerk attraktiver zu machen. Sie erzählen von veralteten Computern an Berufsschulen, von acht Stunden Arbeit ohne Pause, von vier Uhr morgens an, von Ausbildern, die sagen: "Da musste ich früher auch durch." Noch vor zehn Jahren gab es durchschnittlich mehr Bewerber als Ausbildungsplätze, heute hat sich das Verhältnis umgekehrt. In vielen Branchen sind es nicht die Azubis, die um Stellen betteln müssen, sondern die Betriebe, die um Auszubildende werben müssen.

Das Abitur ist nicht der einzige Bildungserfolg

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Pauschal über die Generation Z zu schimpfen hilft da wenig. Wenn Betriebe junge Leute einstellen und halten wollen, müssen sie einen Schritt auf sie zugehen. Das kann mit einem wertschätzenden Umgangston und individuellem Feedback anfangen, es kann über flexiblere Arbeitszeiten und mehr Urlaubstage bis hin zur Viertagewoche gehen. In Freiburg gibt es seit Kurzem eine Bäckerei, die erst um elf Uhr morgens öffnet. Mit Personalnot hat sie nicht zu kämpfen, der Chef bekommt mehr Bewerbungen, als er junge Leute einstellen kann.

Wobei man sich auch nichts vormachen muss: Ein Bäcker mag sich in einen Brotsommelier verwandeln können, in vielen anderen Gewerken werden sich die Bedingungen nicht von heute auf morgen verändern lassen. Wer Karosserieteile zusammenschweißt, muss Lärm und Staub aushalten, wer ein Dach deckt, muss schwere Platten tragen und auf Häusern herumklettern.

Das vielleicht Wichtigste, was Kunden, Politiker, die Gesellschaft Handwerkerinnen und Handwerkern deshalb entgegenbringen können, ist: Anerkennung. Das Gymnasium und die Uni sollten nicht die einzigen Stationen auf dem Weg in den Beruf sein, die sich Eltern für ihre Kinder wünschen. Bildungserfolg sollte nicht nur in Abiturienten- oder Studierendenquoten gemessen werden. Auch wenn ein Mittelschüler nach der Ausbildung seine Meisterprüfung als Metzger schafft, ist das eine Erfolgsgeschichte. Und auch eine Abiturientin, die sich für eine Lehre als Tischlerin entscheidet, kann Karriere machen.

Erst einmal muss man wissen, welche Berufe es überhaupt gibt

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Viele junge Leute machen sich erst viel zu spät Gedanken darüber, welcher Beruf sie interessieren könnte. Flüchten nach der Schule erst mal in ein Gap Year oder fangen irgendeine Ausbildung oder irgendein Studium an, ohne eine Vorstellung davon zu haben, was sie später damit anfangen wollen. Fast ein Drittel der Bachelorstudierenden bricht ab. Deshalb ist es wichtig, schon an der Schule über verschiedene Berufe aufzuklären, durch Kooperationen mit Ausbildungsbetrieben, Orientierungstage mit Leuten aus der Praxis, gut vor- und nachbereitete Praktika. Und zwar nicht nur an den Mittel- und Realschulen, sondern auch an den Gymnasien.

Wenn Deutschland zukunftsfähig sein will, braucht es natürlich Wissenschaftlerinnen und Ingenieure. Aber es braucht auch Handwerkerinnen und Handwerker, die Stromleitungen für E-Ladesäulen verlegen, die Schienennetze ausbauen und Wärmepumpen installieren. Mit einem Meister-, Techniker oder Fachschulabschluss verdient man im Schnitt übrigens mehr als mit einem Bachelorabschluss.

Kathrin Müller-Lancé

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Kathrin Müller-Lancé, Jahrgang 1995, schreibt seit 2019 für die SZ. Vorher: Politik-Studium in Freiburg und Aix-en-Provence. Nach einer Station in Paris seit 2023 Redakteurin im Politik-Ressort.

 

Quelle: Sueddeutsche.de

 

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